Merlin
Ich versuche es in Worte zu fassen, Worte über einen Menschen zu finden, die zu diesem Menschen passen und ihn wenigstens annähernd beschreiben, ohne dabei ins Extrem des Mitleids oder der Ehrfurcht zu verfallen.
Merlin* ist 42, ein Jahr jünger als meine Freundin, hat die schönsten grünblauen Augen der Welt und traumhafte sonnenaufgangsgoldblonde Haare. Sahara-Sand ist blond;-) Und Merlin ist das, was man "behindert" nennt. Merlin ist gelähmt, sie kann nicht laufen, und das seit 20 Jahren.

Manchmal, wenn ich sie so sitzen sah, glaubte ich, im Gegensatz zu mir friert sie. Dabei war es unfair verteilt - sie in einer dicken schwarzen Jacke, ich nur in einem grauen Sweater auf meinem Rad. Manchmal glaubte ich, sie zittern zu sehen. Alles was mich wärmt scheint mein Tee vom Morgen, mein Sweater und mein müder Verstand zu sein. Was hatte die Frau, was sie so unheimlich und unheimlich anziehend machte...

Manchmal, wenn ich durchs Krankenhaus ging, habe ich sie gesehen. Oder manchmal auch, wenn sie draußen vorm Haupteingang saß und ich daran vorbei gefahren bin. Ich weiß nicht, wie groß Merlin ist, aber mehr als 175cm sind es nicht. Und ich weiß nicht, wie viel sie wiegt. Im ersten Moment fiel mir nicht auf, dass sie auf "irgendwas" sitzt, denn man sah den Rollstuhl nicht. Nicht, weil sie ihn mit ihrem Körper verdeckt hätte; ich habe sie nicht als "behindert" gesehen.

Manche Menschen werden auch durch ihre eigene Masse und Kaffee gewärmt, bei Merlin war eben selbst das nicht der Fall. Es gibt Menschen, die essen so viel, dass sie kotzen müssen, dass sie sich teilend vermehren, dass ihre Knochen beim Aufstehen wie dünne Äste zerbrechen würden, weil diese Menschen körperlich schwerst behindert sind. Diese Menschen sind bemitleidenswert, sie tun mir leid. Würde man die Köpfe dieser Menschen wie Bowlingkugeln anfassen können, dann wären sie wenigstens hinsichtlich der Beförderung ein geringeres Problem.
Auch Merlin war behindert, dennoch habe ich sie so nicht gesehen. Und das machte Merlin zu einem nicht greifbaren Problem. Theoretisch war klar dass sie aus einem anderen Grund, es gibt mehr als genug davon, behindert war, als die zuvor beschriebenen Menschen, denen ich mehr als genug im Krankenhaus begegnet bin. Sie reden miteinander, über uninteressante Dinge wie TV, das Wetter oder gleich über ihre Krankheiten oder auch über Tod. Dazwischen gibt es nichts. Manchmal sagen sie einem, man gehöre doch wie alle anderen auch zu den Hurensöhnen, Schweinen, Vaterlandsverrätern.

Merlin war also für mich anders als die sogenannten normalen Leute oder die, die sonst normalerweise tatenlos da saßen. Und manchmal, wenn ich Merlin so sah, hatte ich viele Bilder im Kopf. Nein, nicht ihren nackten Körper, sondern andere. Ich hatte Bilder von leeren Bierflaschen und Politikern im Kopf.
Warum ich das tagträumte weiß ich nicht, aber es ist doch etwas gemein. Ich bin selten von Menschen empört, ich finde sie ekelhaft, ich hasse sie, sie kotzen mich an.

Erst da wusste ich, was "Empörung" ist - dass sich Merlin nicht dem allgemeinen Bild angepasst hat, darüber war ich empört. Merlin hat mich zum Nachdenken gezwungen. Sie war anders als die anderen und das auf ihre ganz individuelle Art.

Dann habe ich Merlin, das Objekt meiner Empörung, kennengelernt. Und auch wenn mir schon viele Leute begegneten war ich doch von keinem so beeindruckt wie von ihr. Merlin lebt allein, hat zwar wenig Freunde (okay, die habe ich auch nicht, nämlich keinen einzigen), aber ist ein authentisch-optimistischer Mensch.
Wenn ich andere Menschen sehe, die sich beklagen, über ihr schweres Leben und ihren, doch eigentlich recht guten, Gesundheitszustand - in diesen Momenten überkommt mich ein tiefer Schmerz.
Ist es gerecht? Nein. Vielleicht nicht. Wo bleibt hier die Gerechtigkeit? Hören wir irgendwann auf die Hure der Gerechtigkeit durch Rom zu schleifen oder an den Pranger zu stellen? Wir hören damit auf wenn wir gebildet und stark im Geist sind, wenn wir alle gegessen haben. Und wieder kommen andere, die die nächste Dirne in der Ecke stehen sehen, sie totschlagen und wieder durch die Straßen schleifen und dabei Dinge schreien, die das wirkliche Problem, das ohne Zweifel da ist, eben nicht fassen können.

(Merlin, ich möchte dir danken. Auch du hast mich an Grenzen gebracht. Ich verneige mich tief, auch in dem Wissen, mein Eigentliches Anliegen nicht entsprechend verständlich gemacht haben zu können. )
(*ich habe sie Merlin genannt, weil ich glaube, dieser Name beschreibt wenigstens in Ansätzen die Anziehungskraft und Art der Magie, die sie auf mich ausübte. Weiterhin wurde ihr realer Name aus Datenschutzgründen geändert)

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